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6. Ärzte- und Juristentag 2020

Knapp 120 Personen folgten am Samstag, 26.9.2020 der Einladung von Prof. Dr. iur. Katharina Lugani, Direktorin des Dr. med. Micheline Radzyner-Instituts für Rechtsfragen der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (IMR), und Prof. Dr. med. Michael Winking, Leiter des Gemeinsamen Referats Wirbelsäule der Berufsverbände für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU e.V.) und Neurochirurgen (BDNC) zum diesjährigen Ärzte- und Juristentag. Neben Praktikern der Medizin und Juristerei nahmen auch zahlreiche Studierende aus dem Schwerpunkt 9 und dem LL.M.-Studiengang Medizinrecht teil. Bereits zum sechsten Mal lockte die Tagung mit der Möglichkeit zum interdisziplinären Austausch über aktuelle Themen auf der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht – in diesem Jahr allerdings zum ersten Mal in Form einer Online-Konferenz via Zoom. 

Das gewohnte Tagungsformat wurde gleichwohl beibehalten: Insgesamt vier Themenblöcke wurden jeweils durch Referate aus medizinischer und juristischer Sichtweise eingehend beleuchtet und anschließend zur Diskussion gestellt.

Nach einer Begrüßungsansprache durch Prof. Dr. Lugani und Prof. Dr. Winking, in der beide ihre Freude darüber ausdrückten, dass die Tagung trotz der Corona-Widrigkeiten auch in diesem Jahr stattfinden könne, eröffnete Prof. Dr. med. Viola Bullmann, stellvertretende Ärztliche Direktorin und Chefärztin für Wirbelsäulenchirurgie im St. Franziskus-Hospital in Köln, den Veranstaltungstag mit ihrem Vortrag zu den Indikationen und Risiken einer operativen Stabilisierung der Lendenwirbelsäule. Neben tumorösen oder traumatischen Wirbelsäulenverletzungen führten vor allem Deformitäten und degenerative Erkrankungen zur Notwendigkeit eines operativen Eingriffs an der Wirbelsäule, so Bullmann. Zwar müssten die betroffenen Patienten damit rechnen, dass sich Komplikationen nicht in jedem Fall vermeiden lassen und es insbesondere bei brüchigen Wirbelkörpern dazu kommen könne, dass zur Stabilisierung in den Wirbel eingebrachter Knochenzement „auslaufe“ oder sich Schraubimplantate lockerten. Gleichwohl gelinge mithilfe dieser Techniken heutzutage in den allermeisten Fällen eine erfolgreiche Behandlung der Wirbelsäule. 

Als Arzthaftungsrechtler befasste sich sodann Dr. iur. Christian Maus, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in der Düsseldorfer Medizinrechts-Kanzlei Möller & Partner, mit den Haftpflichten des Behandlers für den Fall, dass es doch einmal zu Komplikationen, insbesondere infolge von Implantatmängeln, kommen sollte. Der Einsatz medizinischer Implantate, wie er unter anderem im Zusammenhang mit stabilisierenden Wirbelsäulenoperationen häufig erfolge, erlege dem Behandler zusätzliche Sorgfaltspflichten bei der Auswahl und Handhabung des Implantats sowie bei der Aufklärung des Patienten über die Möglichkeit einer konservativen Behandlung und implantatspezifische Risiken auf. Auch wenn Implantatmängel regelmäßig vor allem den Hersteller beschäftigten, müssten sich Behandler darauf einstellen, ebenfalls in den Fokus einer Schadensersatzklage zu rücken, soweit die Ursache für einen auftretenden Defekt des Implantats nicht unmittelbar eindeutig zu erkennen sei. 

Als „Klassiker“ des Ärzte- und Juristentags hat sich mittlerweile die videobasierte Darstellung eines chirurgischen Wirbelsäuleneingriffs etabliert, die vor allem den teilnehmenden Juristinnen und Juristen einen spannenden und nicht ganz alltäglichen Einblick in die chirurgische Praxis erlaubt. In diesem Jahr erläuterte Priv.-Doz. Dr. med. Christopher Brenke, Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie am Knappschaftskrankenhaus Bergmannsheil Buer in Gelsenkirchen, passend zu den beiden vorherigen Vorträgen den Ablauf einer computerunterstützten Operation zur Stabilisierung der Wirbelsäule durch Implantation eines sog. Fixateur Interne. Wer hier nun aber sehr blutiges Filmmaterial erwartete, der irrte: Virtuelle Navigationstechniken erlauben den Operateuren heutzutage, die Implantatschrauben minimalinvasiv in die Wirbelkörper einzubringen. Der Arzt operiert also faktisch in einer Virtual Reality. So irreal dies klingen mag, so schonend ist diese Technik für die betroffenen Patienten, da sie eine Freilegung der Wirbelsäule vermeidet. 

Im zweiten Vortragsblock zum Einsatz innovativer Techniken und Off Label Use im ärztlichen Tagesgeschehen referierte Priv.-Doz. Dr. med. Marc Dreimann, Sektionsleiter Wirbelsäulenchirurgie der Klinik für Hand-, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. In der ärztlichen Praxis werde der Behandler ständig aufs Neue mit sehr individuellen Lebenssituation der Patienten und hochkomplexen Krankheitsbildern konfrontiert, die durch die ärztlichen Leitlinien nicht eins zu eins abgebildet werden könnten, so Dreimann. Anhand eigener Beispielsfälle vor allem im Zusammenhang mit Wirbelsäulentumoren verdeutlichte er anschaulich die tägliche Herausforderung, individuelle, häufig fachgebietsübergreifende Heilbehandlungspläne für den einzelnen Patienten zu entwickeln und dabei auf neue Techniken und Vorgehensweisen setzen bzw. sich bekannte Techniken im neuen Kontext zu Nutze machen zu müssen. Dies sei ein ständiges „Herantasten an die Möglichkeiten“, so Dreimann, um dem Ziel gerecht werden zu können, die Lebenserwartung, vor allem aber die Lebensqualität für den Patienten möglichst lange möglichst hoch zu halten.

Da die Notwendigkeit einer solchen individuellen Behandlungsweise den Arzt also häufig an den Rand des Bekannten und Bewährten bringt, informierte im Anschluss Dr. iur. Kyrill Makoski, LL.M. (Univ. Boston), der wie Herr Dr. Maus Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Möller & Partner ist, über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Neulandmethoden und Off Label genutzter Behandlungstechniken. Neben höheren Aufklärungspflichten gegenüber dem Patienten über die noch nicht vorhandenen praktischen Langzeiterfahrungen sei vor allem der Aspekt der Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen ein immerwährender Diskussionspunkt in Rechtsprechung und Literatur. Während im ambulanten Bereich grundsätzlich wenig Spielraum für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden verbleibe, habe der Gesetzgeber erst kürzlich im Zusammenhang mit dem Implantateregistergesetz klargestellt, dass Versicherte im Rahmen einer Krankenhausbehandlung Anspruch auf die Versorgung mit Methoden haben, die das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und vom GBA nicht explizit als nicht erstattungsfähig deklariert wurden. Der Begriff des Potenzials wäre dabei weit auszulegen. Damit korrigiere der Gesetzgeber ausdrücklich die bisher deutlich engere Auffassung des BSG. Ob dies in der Rechtsprechung zukünftig so anerkannt werde, bleibe offen; ein erstes Urteil des BSG aus dem März dieses Jahres lasse jedenfalls Zweifel aufkommen, so Makoski.

Nach der Mittagspause schaltete sich auch der geschäftsführende Direktor des Instituts für Rechtsfragen der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Prof. Dr. iur. Helmut Frister in die Zoom-Sitzung und läutete den Nachmittagsblock der Tagungsveranstaltung ein. 

Den dritten Vortragsblock zu dem Thema „IT in der Medizin – Chancen und Risiken“ eröffnete Ingo Mette, CIO und Prokurist der KosIT Services GmbH am Klinikum Osnabrück mit einem Vortrag zum IT-Einsatz im Alltag eines Krankenhauses der Maximalversorgung. Gemeinsam mit Carsten Esser, dem Leiter der Abteilung Digitalisierung & Prozessmanagement bei der KosIT Services GmbH, stellte er die Sanierung der IT-Infrastruktur am Beispiel des Klinikums Osnabrück dar und veranschaulichte den Aufbau neuer digitaler Organisationsstrukturen und Services. In Zeiten einer immer älter werdenden Gesellschaft und steigendem Anspruch an die Medizin stünde die Digitalisierung in den meisten Krankenhäusern noch immer am Anfang, nicht zuletzt wegen des hohen Dokumentationsaufwands und Fachkräftemangels. Auch im „Wettrennen mit den Hackern“ müssten Sicherheitslücken eruiert und geschlossen, fehlendes IT-Knowhow aufgeholt und die digitale Infrastruktur weiter ausgebaut werden, so Mette. Die Digitalisierung werde in Zukunft einen immer größeren Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg eines Krankenhauses darstellen.

Aus der Perspektive einer Arztpraxis berichtete sodann der Anschlussredner Dr. med. Karsten Braun, LL.M. (MedR), niedergelassener Arzt und Inhaber einer Facharztpraxis für Chirurgie, Gefäßchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie in Wertheim, über den Einsatz von IT in der Medizin. Als Vorteile der Digitalisierung im ambulanten Sektor stellte Dr. Braun heraus, dass sich hieraus Potentiale für Fernuntersuchungen, -überwachungen und -diagnosen ergäben und auf Grundlage gesammelter Daten eine bessere Risikoabschätzung ermöglicht oder Gefahren wie unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen identifiziert und vermieden werden könnten. Auch könne man Personalressourcen optimieren, für eine höhere Qualitätssicherung sorgen und die Versorgung zu Hause und auf dem Land verbessern. Es bestünden jedoch Risiken für Persönlichkeitsrechte und Datenschutz sowie Gefahren eines unklaren Datenflusses, Datenverluste, mangelnde Transparenz und Versorgungsausfall.  Kritisch zu sehen sei auch, wenn IT-Themen zum Selbstläufer würden und Arzt sowie Patient als Nutzer zu wenig in IT-Entwicklung eingebunden würden. Erfolg sei nur zu erzielen, wenn Ärzte und medizinisches Personal, die durch Kosten für die Beschaffung der nötigen IT-Infrastruktur und erhöhten Zeitaufwand der Datenerfassung beeinträchtigt werden, auch entlastet würden.

Den Themenkomplex schloss Dr. iur. Sabrina Neuendorf, Rechtsanwältin in der Kanzlei D+B Rechtsanwälte Partnerschaft mbB in Berlin, durch ihren Vortrag zu den juristischen Konsequenzen der verstärkten IT-Einbindung in der Medizin. Schwerpunktmäßig referierte Neuendorf über die elektronische Patientenakte, den Notfalldatensatz sowie digitale Gesundheitsanwendungen als Bestandteile der Telematikinfrastruktur. Sie betonte, dass Inhalte der elektronischen Patientenakte Teil der Anamnese sein könnten, dies aber nicht bedeute, dass auf weitere Rückfragen an den Patienten und vorbehandelnde Ärzte verzichtet werden könne – insbesondere dann nicht, wenn Akteninhalte sich nicht schlüssig darstellten. Auch der Notfalldatensatz biete nur eine begrenzte Verlässlichkeit. Welche Daten darin aufgenommen werden, habe der jeweilige Arzt nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Der Notfalldatensatz, der einerseits Patientenleben retten könne, bedeute für den Arzt andererseits zusätzlichen administrativen Aufwand und eine Pflicht, auf diesen zurückzugreifen, sollte die Notfall-Situation insbesondere in zeitlicher Hinsicht nicht entgegenstehen.

Den letzten Themenblock „Medizin in Zeiten von Corona – Was ist dringlich / was ist ein Notfall?“ eröffnete aus ärztlicher Sicht Priv.-Doz. Dr. med. Matthias Pumberger, geschäftsführender Oberarzt des Centrums für Muskuloskeletale Chirurgie an der Charité Berlin, und zog hierbei sowohl Studien und Aufsätze aus der Literatur, als auch eigene Erhebungen heran. Pumberger stellte heraus, dass Notfälle dann vorlägen, wenn Eingriffe binnen weniger Stunden durchgeführt werden müssen, da andernfalls bleibende Schäden oder gar der Tod einträten (Vergiftung, Polytrauma). Notfalleingriffe seien allerdings prozentual sehr gering. Auch während der Coronapandemie verfüge Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern über ein Vielfaches an Intensivkapazität, sodass dringliche Fälle weiterhin versorgt werden konnten und bislang nicht triagiert werden musste. Gleichwohl benötige man zu Zeiten einer Pandemie eine bedarfsgerechte Steuerung der Ressourcen. Finanziell und in der Organisationsstruktur am stärksten getroffen sei der ambulante Bereich. Auch wenn sich die Eingruppierung zu Dringlichkeiten über die letzten Monate gelockert habe und auch im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie keine klaren Leitlinien zu Wirbelsäulennotfällen existierten: „Dringlich bleibt dringlich und Notfall bleibt Notfall – zumindest aus ärztlicher Sicht.“

Im letzten Referat des Tages befasste sich schließlich Jan Gregor Steenberg, LL.M. (MedR), Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Steenberg Rechtsanwälte in Pforzheim, aus juristischer Sicht mit der Abgrenzung Notfall/Dringlichkeit in Zeiten von Corona. Am Beispiel einer Einsatzfahrt eines Rettungsfahrzeuges machte Steenberg deutlich, dass im Falle der höchste Eile gebietenden Rettung von Menschenleben oder Abwendung schwerer Gesundheitsschäden (Notfall) Rechte Dritter zurückstehen müssten, da der Notfall Priorität habe. Bedeute dies bei der Einsatzfahrt mit erlaubtem Einsatz des Martinshorns sowie eines blauen Blinklichts, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer freie Bahn zu schaffen haben, habe dies übertragen auf die Notaufnahme zur Konsequenz, dass beispielsweise ein Patient mit Knochenfraktur einem Menschen mit Herzinfarkt zu weichen habe. Auch dringliche Augenerkrankungen, Tumore und Geburten müssten daher regelmäßig Notfällen wie Anaphylaxien und ischämischen Prozessen im Kopf weichen. Die Entscheidung über die Behandlungspriorität sei von dem jeweiligen Arzt zu treffen. Trete unglücklicherweise aufgrund eines Mangels an Geräten eine Triagesituation ein, so sei zu beachten, dass Empfehlungen der Fachgesellschaften für diese Fälle keine Rechtsqualität besäßen und den Arzt daher nicht vor zivil- oder strafrechtlichen Konsequenzen schützen könnten. Gleichwohl sei der Arzt gut beraten, sich an den unverbindlichen Empfehlungen zu orientieren, den Konflikt bei der Triagesituation sauber zu dokumentieren und bei den Patienten eine Erstellung von Patientenverfügungen anzuregen, die auch auf die Coronasituation zugeschnitten ist, insbesondere also nicht ausreichende Ressourcen oder auch eine mögliche Teilnahme als Notfallpatient in einer klinischen Studie berücksichtigt.

Allen Bedenken zum Trotz tat die Durchführung der Veranstaltung im Online-Format der Diskussionsintensität im Nachgang der jeweiligen Vorträge erfreulicherweise keinen Abbruch; Mediziner wie Juristen schienen die Gelegenheit zum fachlichen Austausch in einem Jahr voller abgesagter Veranstaltungen gerne zu nutzen (und wussten gleichzeitig den Vorteil des äußerst kurzen Heimwegs zu schätzen).  

Abschließend dankten die Professoren Winking und Frister allen Referenten und Diskutanten für die spannenden und fachlich bereichernden Beiträge. Auch wenn natürlich die große Hoffnung besteht, dass der 7. Ärzte- und Juristentag im nächsten Jahr wieder in Präsenz (oder ggf. als Hybridmodell) stattfinden darf, erwies sich die diesjährige virtuelle "Notlösung" insgesamt jedenfalls als gelungene Alternative. 

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